
Interview zum Thema „Stress im Alltag bewältigen“
Der folgende Text ist das leicht gekürzte und zusammengefasste Interview zwischen David Ruch mit Dr. Stefanie Schöler im Rahmen eines LinkedIn News DACH LIVE zum Thema: Mit Stress im Arbeitsalltag umgehen.
Unter diesem Link findest du die Aufzeichnung des Interviews:
https://www.linkedin.com/video/event/urn:li:ugcPost:6983790900372021248/
David Ruch, LinkedIn News DACH:
Was sind aus deiner beruflichen Perspektive die häufigsten Ursachen für Stress im Job?
Dr. Stefanie Schöler:
Zuallererst stellt sich die Frage: Was macht uns Stress? Da ist Arbeit meistens an erster Stelle. Deswegen ist es total wichtig, dass wir darüber sprechen. Das Zweite sind dann gleich, hohe Ansprüche an sich selbst – auch außerhalb der Arbeit.
Im Bereich Arbeit sind es Dinge wie die Arbeitsmenge oder Verdichtung der Arbeitsmenge. Es sind Dinge wie Zeitdruck, schlechte Kommunikation und soziale Interaktion mit anderen Kolleg:innen. Wenn wir uns im TK-Stressreport die ersten acht Punkte „Was stresst uns am meisten bei der Arbeit“ anschauen, merken wir, dass die Dinge, die uns am meisten belasten, nicht von uns beeinflussbar sind. Die Arbeitsumgebung und schlechte Arbeitsanweisungen gehören ebenfalls dazu. Deswegen ist es mir immer wichtig, den Blick auf das Betriebliche zu richten und nicht einfach nur zu sagen, ok, das ist eben stressig, und der einzelne Mitarbeitende muss ein Resilienz-Training machen, um mit dem Stress umzugehen.
David Ruch, LinkedIn News DACH:
Seit Ausbruch der Corona-Pandemie hat sich das Arbeitsumfeld für viele Menschen stark verändert. Home-Office gehört heute in vielen Berufsfeldern zum Normalzustand. Was hat sich aus deiner Sicht mit der Pandemie beim Thema Stress am Arbeitsplatz für die Menschen verändert?
Dr. Stefanie Schöler:
Zum einen ist das natürlich sehr unterschiedlich für die Bereiche produzierendes Gewerbe, in dem ich viel unterwegs bin, und für die Bürobereiche. Home-Office konnte für viele Mitarbeitenden auch eine großartige Möglichkeit sein.
Wir beobachten dabei, dass Home-Office sowohl Ressourcen als auch Stressoren beinhaltet. Zuerst schauen wir auf das Positive. Es ist eine höhere Vereinbarkeit von Familie und Beruf gegeben. Davon profitieren immer noch überwiegend Frauen, die einfach viel mehr Care-Arbeit leisten. Zusätzlich ist die Flexibilität höher geworden. Ich kann auch einmal zu Hause bleiben, wenn ein Handwerker kommt, ich kann ein Paket entgegennehmen, ich kann einmal früher anfangen oder später enden und ich spare Lebenszeit, dadurch, dass ich nicht mehr pendeln muss. Das sind die drei größten Dinge, die Menschen genannt haben, wenn es um die positiven Seiten des Home-Office ging.
Wenn wir jetzt auf die andere Seite gucken, was sind die Stressoren durch das Home-Office, stehen auch da zwei, drei Sachen im Vordergrund. Zum einen ist es der fehlende Kontakt zu den Kollegen. Des Weiteren ist manchmal die Erreichbarkeit der Führungskräfte schwierig, weil Fragen kommen wie: Was soll ich eigentlich machen? Was ist eigentlich wichtig? Bei der Trennung zwischen Beruflichem und Privatem verschwimmen die Grenzen immer mehr. Ständige Erreichbarkeit ist da ein Stichwort. Das sind Dinge, die deutlich mehr stressen und die noch stärker geworden sind durch die Corona-Pandemie und Home-Office.
David Ruch, LinkedIn News DACH:
Schauen wir mal auf die Arbeitgeber. Welche Verantwortung tragen sie für das Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter?
Dr. Stefanie Schöler:
Die Frage finde ich sehr wichtig. Die Antwort darauf gibt das Arbeitsschutzgesetz. Da haben wir einmal Paragraf 3, die Unternehmerpflichten und wir haben Paragraf 5, die Gefährdungsbeurteilung. Das sind für mich die vielleicht wichtigsten Paragrafen im Arbeitsschutzgesetz. Paragraf 3, Unternehmerpflichten sagt aus, dass der Unternehmer dafür Sorge zu tragen hat, dass der Arbeitsplatz sicher und gesund ist für Mitarbeitende, dass Gefahren abgewendet werden und dass man hier sogar noch dazu beiträgt, dass es noch gesünder und sicherer wird als anderswo. Durch Umsetzung des Paragrafen 3 passieren die wenigsten Unfälle tatsächlich auf der Arbeit. Im Vergleich dazu passieren viel mehr Unfällen im Sport- und Haushaltsbereich.
Und dann gibt es noch den Paragraf 5: Gefährdungsbeurteilung (Wie sind die Arbeitsplätze? Was sind Gefahren? Was sind Risiken, wie kann ich sie abwenden? Wie kontrolliere ich, dass die Maßnahmen, die ich ergriffen habe, auch gut funktionieren?). Die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung bekommen Arbeitgeber in der Regel schon ganz gut hin.
Was sie noch nicht ganz so gut hinkriegen, ist die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen bei der Arbeit, die seit 2013 im Paragraf 5 unter Punkt 6 ergänzt worden sind. Der Unternehmer ist gesetzlich verpflichtet, sich auch die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz anzusehen. Was stresst oder belastet Menschen in meinem Unternehmen und welche Maßnahmen können wir ergreifen, um dem vorzubeugen und zu reduzieren? Und er ist auch dazu verpflichtet, das zu kontrollieren. Da gibt es Aufsichtsbehörden, unter anderem Berufsgenossenschaften, Aufsichtspersonen, die dann vorbeischauen und sagen, „Mensch, wie habt ihr das eigentlich gemacht“? Ja, Unternehmen sind ganz klar in der Pflicht, die Arbeitsplätze gesund und sicher zu gestalten.
Nur etwa die Hälfte der Unternehmen führt bereits eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung durch.
David Ruch, LinkedIn News DACH:
Hast du das Gefühl, dass die Arbeitgeber in der Regel empfänglich sind für dieses Thema? Dass sie etwas verbessern wollen?
Dr. Stefanie Schöler:
Da erlebe ich eine große Bandbreite. Es gibt viele Arbeitgeber, die erkannt haben, dass wir mittlerweile einen Arbeitnehmermarkt haben. Wir haben Fachkräftemangel, wir suchen händeringend Leute, wir haben durch Corona mitunter sehr hohe Krankheitsraten und damit eine geringe Personaldecke. Was kann ich tun, wenn ich wenig Chancen habe, Personal zu kriegen?
Zum einen kann ich Arbeitsbedingungen so gestalten, dass die Mitarbeitenden gerne bleiben und gesund arbeiten können, nicht krank werden und dann ausfallen. Mit einem gesunden Umfeld und einer guten Unternehmenskultur bin ich außerdem ein attraktiver Arbeitgeber und kann eher Fachkräfte für mich gewinnen. Doch trotz der gesetzlichen Verpflichtung haben sich bisher nur 50 % der Unternehmen dieser strukturierten Form der Gefährdungsbeurteilung angenommen – Tendenz steigend. Die Gefährdungsbeurteilung ist das zentrale Instrument des Arbeitsschutzes, die man sicherlich auch in andere Form als eben beschrieben umsetzen kann.
David Ruch, LinkedIn News DACH:
Beschreibe doch das Ganze noch ein bisschen konkreter. Was kann der Arbeitgeber machen, um das Arbeitsumfeld stressfreier zu gestalten? Gibt es bestimmte Instrumente oder Strategien?
Dr. Stefanie Schöler:
Es gibt verschiedene Instrumente und Maßnahmen, die kann ich gerne gleich noch nennen und mir ist eine strukturierte Vorgehensweise wichtig. Es gibt oft die Tendenz zu sagen „Ach ein Resilienz-Workshop ist super und hat gut geklappt, das machen wir jetzt auch“. Und dann hat man nachher einen bunten Blumenstrauß an Maßnahmen und weiß gar nicht, ob diese wirken. Mein Appell ist daher, erst einmal eine Analyse zu machen. Zu schauen, wo sind denn bei uns die Probleme? Und das kann mit der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen sehr gut abfangen werden. Das kann über Fragebögen gemacht werden. Was stresst euch und wie sieht es z. B. mit Ergonomie und Lärm aus? Wie ist die Zusammenarbeit mit den Kollegen und Führungskräften? Schichtmodelle? Wenn ich das habe, sehe ich, wo die Schmerzpunkte sind. Ist es zu viel oder zu wenig Information? Ist es die Ergonomie oder das Schichtmodell? Erst dann empfehle ich in Workshops zur Bearbeitung zu gehen.
Und betroffene Mitarbeitende zu beteiligen, herauszuarbeiten, welche Ideen sie haben. Das würde ich der Frage nach den Maßnahmen vorausschicken. Es ist immer gut, wenn Mitarbeitende Dinge mitbestimmen, mitentwickeln und selbst entscheiden können. Je mehr Freiheit ich Menschen in der Gestaltung ihrer Arbeitszeit und Arbeitsumwelt geben kann, umso besser ist es. Nehmen wir das Beispiel Schichtarbeit: ich die Mitarbeitenden entsprechend schule und mitnehme, könnte die Verteilung auf die Schichten nach gemeinsamer Absprache zur Stressreduktion führen.
Im Bürobereich könnte die Maßnahme eine Art Playbook sein (gemeinsames Entwickeln von Regeln). Wie wollen wir miteinander arbeiten? Ein großer Stressor für Büroarbeiter:innen ist die große Informationsflut. Es ist durch Corona nicht besser geworden. Informationen kommen über verschiedene Kanäle, z.B. MS-Teams, Slack-Channel, E-Mails, LinkedIn Nachrichten, WhatsApp, Festnetztelefon … Es lohnt sich im Team abzusprechen, wie wollen wir kommunizieren? Wer muss bei den E-Mails in CC, wer muss bei den Meetings dabei sein? Wann nutze ich den Chat und wann nutze ich die E-Mails? Gemeinsame Regeln zu entwickeln, kann Entlastung schaffen.
Des Weiteren kann die Einführung einer stillen Stunde (ungestörte Arbeitszeit) mit Arbeiten ohne Störungen durch Telefone, Mails und persönlichen Kontakten, entlasten. Führungskräfteschulungen können eine weitere Unterstützung sein.
David Ruch, LinkedIn News DACH:
Absolut. Du hast die Punkte Kommunikation und Schichten angesprochen. Was sind andere Themen, die Leute in solchen Befragungen angeben, was für sie Stressoren am Arbeitsplatz sind?
Dr. Stefanie Schöler:
Kommunikation ist tatsächlich ein großer Bereich. Oft sind es sozialen Kontakte und Konflikte am Arbeitsplatz. Und Führungskräfte sind ein ganz großes Thema. Führen Führungskräfte zu viel, sogenanntes Mikromanagement, bedeutet das, sie geben und haben wenig Vertrauen, sie „hängen“ sich zu sehr rein und Mitarbeitende bekommen zu wenig Rückmeldung. Führen sie zu wenig, kann das ebenfalls Stress bei den Mitarbeitenden auslösen. Wenn ich nichts weiß, kann ich nicht einschätzen, ob ich in die richtige Richtung laufe, ich weiß nicht, was wird von mir erwartet. Das sind Stressoren. Weiterhin sind in vielen Berufen die Kontakte mit Kunden, Lieferanten, Patienten, Reisenden ein großer Faktor der zwischenmenschlichen Beziehungen und somit oftmals Stressoren.
David Ruch, LinkedIn News DACH:
Stichpunkt menschliche Beziehungen. Welche Rolle spielt denn da das Miteinander im Team, damit Stress vielleicht gar nicht erst entsteht oder dass Stress, wenn eine hohe Arbeitsbelastung da ist, einfacher abgebaut werden kann?
Dr. Stefanie Schöler:
Team ist ein wichtiger Faktor, es kann eine große Ressource sein. Es ist oftmals so, dass Menschen gestresster sind, die arbeiten, als die, die nicht arbeiten. Menschen im arbeitsfähigen Alter sind alle gleichmäßig gestresst. Das Team kann dabei eine wichtige Rolle spielen. Wenn ich mich mit meinen Kollegen verstehe und sage, es tut mir leid, ich schaffe das heute nicht. Kannst du das für mich machen? Und ich weiß, ich bekomme Hilfe, wenn ich danach frage. Wir unterstützen uns gegenseitig. Es entsteht eine schöne Arbeitsatmosphäre und jede:r kann ehrlich und offen sein, dann kann das eine große Entlastung sein. Wir sprechen hier von dem Begriff der psychologischen Sicherheit. Dies entsteht im Team und hat zusätzlich mit den Führungskräften zu tun. Es geht um die Frage, inwiefern darf ich auf der Arbeit ich selbst sein? Inwiefern darf ich Fehler und Schwächen zugeben? Inwiefern schaffe ich es, mich zu entschuldigen und zu sagen, es tut mir leid, das war mein Fehler. Oder kann sagen: Ich weiß das nicht, ich kann das nicht. Das sind Dinge, die psychologische Sicherheit schaffen. Es entsteht eine Teamatmosphäre, in der es möglich ist, sich zu öffnen.
Und du hattest gerade gesagt, viele Menschen haben am Mental Health Day auf LinkedIn haben sich viele geöffnet. Sie haben mitgeteilt, dass sie einen Burnout hatten oder sich überlastet fühlen. Sowas traue ich mich nur in einem Umfeld, das psychologisch sicher ist. Wo man sich im Team gemeinsam hinsetzen kann und sagen, das darf nicht sein, dass wir überlastet sind. Lass uns gemeinsam gucken, gibt es Prioritäten, welche Dinge müssen wirklich gemacht werden? Welche können wir vielleicht anders machen und welche können wir verschieben und wer kann vielleicht noch etwas abnehmen? Deshalb sage ich, das Team spielt eine große Rolle. Zum einen kann es ein großartiger Nutzen sein, wenn ich Stress habe und im Austausch bin und dadurch Entlastung habe. Auf der anderen Seite können soziale Kontakte auf der Arbeit aber auch stressen. Wenn man zum Beispiel einen Konflikt mit einem Kollegen hat und jeden Tag mit Bauchschmerzen auf die Arbeit geht.
David Ruch, LinkedIn News DACH:
Was sind denn Signale, woran eine Führungskraft oder ein Kollege erkennen kann, da nähert sich ein Kollege gerade einer Überlastung?
Dr. Stefanie Schöler:
Das erkennt man bei anderen wie bei sich selbst. Es sind Dinge, wie eine gewisse Gereiztheit bei jemanden, der sonst ausgeglichen ist. Der Mensch nimmt Sachen viel persönlicher als sonst. Das könnte ein Zeichen für eine Überlastung sein. Ein weiteres Merkmal kann sein, dass Mitarbeitende (oder ich selbst) keine Pausen mehr machen. Sie sagen, ich habe keine Zeit, ich muss ins nächste Meeting. Sie bleiben beim Mittagessen am Rechner sitzen, essen nur schnell oder gar nicht. Es kann verschiedene Ursachen haben. Bei Stress werden z.B. Hobbys weglassen, man lässt das Mittagessen mit den Kollegen aus, Spaziergänge nach der Arbeit fallen weg, … Für alles hat es keine Zeit mehr. Das können u.a. Warnsignale sein. Es aber kann auch sein, dass sich Mitarbeitende zurückziehen und nicht mehr an Diskussionen oder Team Angelegenheiten beteiligen.
David Ruch, LinkedIn News DACH:
Wenn wir jetzt mal auf die individuelle Ebene schauen: Warum reagieren Menschen unterschiedlich auf Stress?
Wir reagieren unterschiedlich auf Stress, weil wir unterschiedliche Ressourcen haben.
Dr. Stefanie Schöler:
Wir reagieren unterschiedlich auf Stress, weil wir unterschiedliche Ressourcen haben. Wir sprechen grundsätzlich von Eustress und Distress, also von positivem und negativem Stress. Es kippt in den negativen Stress, wenn uns die Ressourcen fehlen, um die an uns gestellten Anforderungen zu bewältigen. Solange es nur ein kleines bisschen drüber geht, empfinden wir es als Herausforderung. Dann komme ich vielleicht in einen Flow, wenn ich die Herausforderung gerade noch bewältigen kann. Dann kann es positiv sein. Ressourcen sind aber unterschiedlich verteilt. Ressourcen können familiärer Rückhalt sein. Das haben wir in der Coronasituation während des Lockdowns gemerkt. Besonders gestresst waren Menschen, die alleine gelebt haben und keine sozialen Kontakte hatten. Soziale Kontakte, Einkommen, Bildung und sozialer Status sind weitere Ressource.
In einer Befragung zeigte sich: Je gestresster Menschen sind, desto eher wollten sie ihr Leben verändern. Und gleichzeitig haben die die, die am stärksten gestresst sind, häufig wenig Chancen, ihr Leben zu verändern. Und das hängt zum Beispiel davon ab, ob und wie sehr ich von meinem Job abhängig bin. Keine Möglichkeit habe, um zu sagen, mich nervt hier alle, ich gehe woanders hin. Vielleicht weil ich auf dem Land lebe und einen anderen Arbeitgeber nicht erreichen kann. Dies erhöht den Stress und gleichzeitig habe ich weniger Ressourcen, um damit umzugehen. Ressourcen können auch eine generelle Gesundheit sein, wie ich mit Stress um gehe.
David Ruch, LinkedIn News DACH:
Es gibt positiven Stress, genauso wie es für uns schädlichen Stress gibt. Manchmal ist die Grenze nicht einfach festzustellen für den einen oder anderen Menschen. Woran kann man das festmachen?
Dr. Stefanie Schöler:
Wir unterscheiden zwischen akutem, kurzfristigem und chronischem Stress. Akuter Stress, ist z. B., ich muss jetzt eine Präsentation halten und das stresst mich kurz. Es gehen der Cortisol-, Adrenalinspiegel und Blutdruck hoch. Das macht mich leistungsfähig und dann fällt es wieder ab. Es gibt Sachen, die kurzfristig stressen, z.B. eine Prüfung, da muss ich etwas länger darauf hinarbeiten. Und auch hier fällt der Stresslevel im Anschluss wieder ab. Es wird chronisch, wenn es über mehrere Wochen oder Monate hinweggeht. Ein wichtiger Seismograf ist unser Schlaf. Wenn ich merke, dass ich über Wochen schlecht schlafe, schlecht einschlafe, früh aufwache und nicht durchschlafen kann, kann es ein Hinweis darauf sein, dass ich Stress habe. Zieht es sich über Wochen, ist das alarmierend und ich sollte etwas dagegen unternehmen. Eine chronische Stresssituation kann auch sein, dass ich einen kranken Angehörigen pflegen muss oder möchte. Das sind alles Situationen, die längerfristig sind und wo ich schauen muss, wie hole ich mir Unterstützung. Vor allem, wenn ich weiß, das sind nicht nur Monate bis zur nächsten Prüfung und dann ist es wieder gut, sondern die Situation kann vielleicht sogar Jahre dauern.
David Ruch, LinkedIn News DACH:
Wenn wir weiterdenken, wohin kann chronischer Stress führen?
Dr. Stefanie Schöler:
Chronischer Stress kann zu einer psychischen Erkrankung führen, z.B. Burnout oder Depressionen. Es stellt sich die Frage, gibt es Burnout als klinisches Bild oder sprechen wir von einer Belastungsreaktion und einer Depression. Es kann auch Auswirkungen auf den Körper haben, z.B. dauerhafter Bluthochdruck, es kann Diabetes hervorrufen, es können die Leberwerte schlechter werden. Stress kann sowohl psychische, als auch körperliche Schäden hinterlassen, wenn er chronisch wird.
David Ruch, LinkedIn News DACH:
Was kann der Einzelne tun, wenn er eine Überlastung spürt? Was kann man selbst machen, um Stress zu reduzieren oder abzubauen?
Dr. Stefanie Schöler:
Auch hier würde ich mit einer Analyse starten. Ich fühle mich gestresst, ich schlafe schlecht, ich mache keine Pausen mehr, ich glaube, ich bin im Stress, was stresst mich genau? Damit kann ich herausfinden, ob das Dinge sind, die im „Außen“ liegen. Ist es Termindruck, ist es Freizeitstress, ist es Familie, ist es die Care-Arbeit? Oder sind es Dinge, die im „Inneren“ liegen, wie hohe Ansprüche an sich selbst. An den eigenen Ansprüchen kann ich leichter arbeiten, als an den Dingen, die an Außen liegen. Ich muss erst einmal schauen, was sind die Dinge, die mich konkret stressen und dann überlegen, was könnte da helfen? Wenn ich z. B. das Gefühl habe, ich muss mich ständig um die Kinder kümmern, kann mir jemand etwas von der Arbeit abnehmen? Oder ich habe zu viel Haushalt, kann ich das irgendwie abgeben? Oder gibt es eine Möglichkeit, meinen Anspruch dazu zu reduzieren? Wenn wir jetzt bei den Kindern- und Hausarbeitsbeispielen bleiben, müssen sie wirklich jeden Mittag ein frisch gekochtes Mittagessen bekommen oder darf ich auch einmal Fischstäbchen in die Pfanne hauen? Oder ich habe 10.000 Präsentationen, müssen die immer zu 100 % perfekt sein oder reichen auch einmal 80 %?
Und was immer hilfreich ist und was ich jedem empfehle, sind zwei Dinge. Achtsamkeit und Dankbarkeit. Achtsamkeit, weil es ein achtsamkeitsfokussiertes Stresstraining gibt. Das ist gut evaluiert und hilft wirklich. Da kann man auf YouTube schauen, nach Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) suchen. Z. B. einen Bodyscan, wo ich den Körper durchgehe um zu schauen, wie fühlt sich das an? Achtsam mit dem eigenen Körper sein. Ich kann achtsam essen, ich kann achtsam gehen. Achtsamkeit als Überbegriff ist hilfreich, um Stress schneller wahrzunehmen und um in stressigen Situationen wirklich etwas zu tun. Und das andere ist, ein Dankbarkeitstagebuch zu führen. Sich immer wieder bewusst zu machen, wofür bin ich dankbar? Das können kleine Dinge sein, wie, ich habe heute Morgen einen wunderbaren Cappuccino getrunken, ich habe letzte Woche beim Angeln einen richtig tollen Fisch gefangen, ich habe heute in den Garten geschaut und Blumen gesehen … Das hört sich erst einmal banal an, aber auch hier gibt es Studien, die zeigen, wenn wir uns mehr auf das Positive fokussieren, auf das, wofür wir dankbar sind, dann können wir das Leben insgesamt besser genießen. Und dadurch reduziert sich unser Stress.
Und was noch hilfreich ist, sich in Zeiten wo man keinen Stress hat, zu überlegen, was entspannt mich? Sich ein Stressnotfallpaket zu schnüren. Wenn ich weiß, ich bin gestresst und Gartenarbeit, joggen gehen, mit den Kindern spielen, in die Badewanne gehen oder einen Tee trinken … entspannt mich, dann muss ich mir Zeit für so etwas nehmen.
David Ruch, LinkedIn News DACH:
Ich sehe noch eine Frage, die von einem Nutzer hereingekommen ist. Christopher fragt, ob es chronischen, positiven Stress gibt, der zu Problemen führen kann?
Dr. Stefanie Schöler:
Ich glaube von der Definition her, kann es keinen chronischen, positiven Stress geben. Vielleicht fühlt es sich für das Individuum noch an, wie positiver Stress. Gerade bei Personen, die einen hohen Entscheidungsspielraum haben, die merken oft lange nicht, wenn sie an ihrer Überlastungsgrenze arbeiten. Es fühlt sich vielleicht noch positiv an. Doch die Auswirkungen auf den Körper sind, wenn es chronisch wird, auf jeden Fall negativ.
David Ruch, LinkedIn News DACH:
Stefanie, wir sind mit der Zeit schon am Ende. Ich möchte dir ganz herzlich „Danke“ sagen, dass du dir die Zeit genommen hast, meine Fragen hier zu beantworten und sehr interessante Einblicke in deine Arbeit und Themen zu geben.
Dr. Stefanie Schöler:
Sehr gerne. Ich danke dir.
Unter diesem Link findest du die Aufzeichnung des Interviews:
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